Ode ans Telefon
Sendung: | Mittendrin Redaktion Kommentar |
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AutorIn: | Johannes Meinecke |
Datum: | |
Dauer: | 03:15 Minuten bisher gehört: 127 |
Manuskript
Krisen bedeuten Einschnitte. Der Beginn der Corona-Pandemie mitsamt den darauf folgenden politischen Maßnahmen und Eingriffen in den Alltag der Bevölkerung, war für viele Menschen in Deutschland das erste Mal in ihrem Leben, das sie wirklich spürbar in ihrer Bewegungsfreiheit Einschränkungen erfahren mussten. Die Vorgaben möglichst zu Hause zu bleiben, keine sozialen Veranstaltungen mehr zu besuchen und im öffentlichen Raum auf Abstand zu bleiben, schnitten stark in einen Bereich des menschlichen Zusammenlebens, der durch Digitalisierung und Globalisierung bereits einem stark spürbaren Wandel unterliegt: das soziale Miteinander. Im Zeitalter des Internets, der Virtual Communities und von Homeoffice ist es einigermaßen normal und einfach, sich in die eigenen vier Wände zurück zu ziehen und trotzdem mit Angehörigen und Freunden verbunden bleiben zu können. Aber besonders die jungen Menschen unter uns, die bereits mit WhatsApp, Instagram und anderen sozialen Medien groß geworden sind oder gerade aufwachsen, verstehen nicht so einfach, dass dies nicht immer so war.
Vor gerade einmal zwei Jahrzehnten war das höchste der interpersonellen Kommunikation über lange Distanz ein relativ unförmiger Kasten aus Plastik, meist mit Tasten oder einem Drehrad aus Plastik versehen, das ratternde Geräusche von sich gab, wenn man es bewegte: das gute alte Festnetztelefon. Einst Grundbestandteil jeder Wohnung, erscheint es heute als Relikt einer fast schon vergessenen Zeit. In Zeiten von Corona und Quarantäne scheint es vielleicht wieder ein wenig von seinem alten Glanz zurück zu gewinnen und zu seiner alten Form zurück zu finden. Nach tagelangen Serienorgien und der Wiederentdeckung des Buches als Medium scheint auch das Festnetztelefon als beruhigende Versicherung in der Krise. Auch wenn sich die Welt schnell ändern kann, und man selbst in globalen Pandemien kurzerhand auf die eigenen vier Wände beschränkt ist, gibt es da dieses Gerät, das uns in kürzester Zeit mit unseren Freunden und Bekannten verbinden kann. Es bietet den direkten Draht in deren Heim, in deren Lebenswelt – und nach wenigen Minuten des Gesprächs ist man beruhigt und versichert: Ich bin mit dieser Situation nicht alleine. Den Anderen geht es wie mir. Nach ein paar Wochen intensiver Gespräche und der Pflege alter Bekanntschaften ertappt man sich bei der Frage, warum erst eine globale Gesundheitskrise kommen muss, damit man mal wieder mit Menschen Kontakt aufnimmt, die einem im Leben wichtig sind. Gerade deshalb bietet Krise, eine Umwälzung bekannter Gegebenheiten, auch immer Gelegenheit zum Innehalten, zum Überdenken eingeschleifter Muster. Ein starker Einschnitt in den Alltag kann uns so zeigen, was eigentlich wirklich wichtig für ein glückliches Leben ist. In dem Sinne: Telefonieren Sie mal wieder, es müssen ja nicht studenlange, philosophische Diskussionen werden. Denn Nähe, zumindest auf der emotionalen Ebene, macht uns Menschen das Leben als soziale Wesen deutlich erträglicher. Auch in unsicheren Zeiten wie diesen.
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