Der Umbau des Waageplatzes – Wird die nördliche Innenstadt gentrifiziert?
Sendung: | Mittendrin Redaktion |
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AutorIn: | Marco Mellinger |
Datum: | |
Dauer: | 03:22 Minuten bisher gehört: 386 |
Manuskript
Text
Die Stadt Göttingen will den Waageplatz in der Innenstadt umgestalten und spricht ganz viel von Bürger*innenbeteiligung. Sie hat Postkartenaktionen organisiert, Feste gefeiert und wollte auf die Wünsche der Bürger*innen eingehen. Die wünschen sich auch so einiges, vieles davon kann die Stadt aus Platzgründen nicht umsetzen. Anderes will sie nicht. Bei dem Bürger*innengespräch am 12. Januar 2023 stand der Elefant daher deutlich im Raum. Die eine Seite fordert öffentliche Toiletten, die andere weigert sich, diese in den Planungsprozess einzubeziehen. Doch warum? Es geht in dieser Debatte nicht primär um kleine Kinder und Menschen mit schwachen Blasen, sondern um die Menschen, die in der Gesellschaft keinen Platz finden. Denen kein Platz geschaffen wird. Die Toiletten sollen also nicht gebaut werden, damit der Alkoholkonsum und Drogenmissbrauch auf dem Platz weniger werden. Oder um es mit den Worten der Moderatorin des Abends zu sagen: „Wir wollen‘s den Trinkern nicht zu bequem machen“. Komisch. Wir wollen also nicht, dass Alkohol auf dem Platz konsumiert wird. Oder will die Stadt einfach nur nicht, dass eine einzelne Personengruppe auf dem Platz keinen Alkohol trinkt? Weinfeste und Bierfeste laufen ja doch ganz gut. Wer seinen oder ihren Konsum im Griff hat und mit der Arbeit vereinbaren kann, darf demnach Spaß haben. Wer das nicht mehr kann, hat also Pech gehabt. Wenn das das sogenannte Städtebauförderungsprogramm Sozialer Zusammenhalt ist – einen Zusammenhalt, den die Stadt hier umsetzen will – dann sollten wir erst mal über das Wort sozial reden. Sozial beschreibt, wie wir miteinander umgehen, berücksichtigt die Interessen und Wünsche anderer Menschen und steht ebenfalls für soziale Gerechtigkeit. Ist es sozial, Politik gegen Menschen zu machen, die in unserer Leistungsgesellschaft keine Chance bekommen haben oder von den Walzen zerdrückt wurden? Haben diese Menschen keinen Raum verdient, auf dem sie leben dürfen? Oder sollte die Stadt nicht allen Menschen gleichermaßen gehören? Aber nüchtern betrachtet erleben wir im ganzen Bereich von Goethe-Allee bis zum Iduna Zentrum und von der alten JVA bis zum Gothaer Haus Weniges, was so richtig sozial erscheint. Die alte JVA wird von der Polizei geräumt, weil dort Menschen für soziale Einrichtungen kämpfen. Ins Gothaer Haus werden Wohnungen gebaut, die sich laut Berichterstattung vom Göttinger Tageblatt vermeintlich die wenigsten leisten können. Und das Weender Tor soll dann als nächstes kommen. All diese Gebäude sind nicht zufällig so nah beieinander. Nein, sie liegen alle im Sanierungsgebiet „Nördliche Innenstadt“. Dann lasst uns das Kind doch beim Namen nennen! Die nördliche Innenstadt wird gentrifiziert. Arme Menschen werden an die Ränder der Stadt, die Peripherie, verdrängt und wer Geld hat, darf im Zentrum bleiben. Es bleibt also spannend, ab wann auch Studierende nur noch über Kegelvereinen in Holtensen oder in Zelten auf dem Campus schlafen können. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten: Drogenkonsumräume, Beratungszentren, Begegnungsstätten kann es nie genug geben und gibt es teils noch gar nicht in Göttingen. Außerdem könnte Wohnraum gebaut werden, der bezahlbar für alle Menschen ist und nicht das Stigma der Sozialwohnung trägt. Wie offensichtlich paradox das doch scheint! Konzepte gibt es schon. Zum Beispiel ein Blick auf das Wiener Modell zeigt, wie eine Stadt sich für gerechteren Wohnraum einsetzen kann. Hier wird durch die Stadt Wien Wohnraum geschaffen, der für jede Person zugänglich ist und dadurch gleichzeitig die Mieten im privaten Wohnungsmarkt drückt. Klar, auch das Projekt hat Schwachstellen. Aber es kann inspirieren und dazu anregen, neue Wege zu gehen. Und wo, wenn nicht in der Stadt, die Wissen schafft, können mit neuen Ideen und etwas Mut Wege gegangen werden, die noch nicht gepflastert sind.
Zur Verfügung gestellt vom StadtRadio Göttingen
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