Sendung: Mittendrin Redaktion
AutorIn: Tina Fibiger
Datum:
Dauer: 04:36 Minuten bisher gehört: 233
Über drei Generationen hinweg haben Mitglieder der Familie Gräfenstein in der Weender Straße das Texilkaufhaus Gräfenstein betrieben. Neun Gedenktafeln aus Messing vor dem Eingang zum C&A Kaufhaus erinnern künftig an die Geschichte ihres Lebens und die ihrer Vertreibung und Vernichtung durch das nationalsozialistische Terrorsystem. Bereits zum vierten Mal verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig gestern in Göttingen Stolpersteine zum Gedenken an die früheren jüdischen Mitbürger. Einen weiteren Gedenk- und Erinnerungsort bilden die acht Stolpersteine, die vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Eisenstein in der Bühlstraße 28a in den Boden eingelassen wurden. Tina Fibiger berichtet.

Manuskript

Text

Auf den Messingtafeln sind neben den Namen und den Lebensdaten der jüdischen Mitbürger auch die Lebensumstände eingraviert. „Gedemütigt / Entrechtet / Mit Hilfe Überlebt“ heißt es über Richard Gräfenberg. Der Stolperstein für Anneliese Gräfenberg erinnert an ihre Flucht, die spätere Deportation nach Theresienstadt und dass sie 1943 in Auschwitz ermordet wurde. In der Weender Straße 19/21 wohnten und arbeiteten auch Walter und Erika Gräfenberg, bevor ihnen 1937 die Flucht in die USA gelang. Schülerinnen und Schüler des Theodor-Heuss-Gymnasiums haben sich anlässlich der Verlegung der Stolpersteine mit den Biografien von neun Mitgliedern der Göttinger Großfamilie beschäftigt. Sie erklären, dass ihr Schicksal exemplarisch für das Leid sei, dass die Verfechter des nationalsozialistischen Rassewahns über die jüdischen Bürger der Stadt Göttingen gebracht hatten.

 

O-Ton 1, SchülergruppeTheodor-Heuss-Gymnasium, 8 Sekunden

Es ist ein Beleg dafür, dass die Göttinger Mitbürgerinnen und Mitbürger damals nicht willens oder in der Lage waren, diese Menschen zu schützen.“

 

Texte

Elf Nachfahren der Großfamilie Gräfenberg sind aus den USA für die Gedenkfeier nach Göttingen gekommen. Zu einem späteren Zeitpunkt nehmen mit ihnen auch zwei Urenkel von Meta Müller an der Verlegung von weiteren acht Stolpersteinen in der Bühlstraße 28a teil. Sie sind bereits mit den Erfahrungen von Flucht und Exil vertraut, die Meta Müllers Töchter Rosa und Luise erlebten und mit ihnen die Enkel Ursula und Gerd Rosenberg. Der Historiker Oliver Doetzer hatte während seines Studiums in Göttingen den Briefwechsel der Familienmitglieder während der Naziherrschaft erforscht und dokumentiert. Vor ihrem letzten gemeinsamen Göttinger Wohnsitz lässt er ihre Stimmen zu Wort kommen.

 

O-Ton, 2 Oliver Doetzer, 26 Sekunden

Wir müssen unbedingt regelmäßig in Verbindung bleiben. Ihr seid doch die Einzigen, die von der Müllerschen Seite noch existieren. Ich weiß nicht, was du über das Schicksal deines Vaters gehört hast. Uns teilte die Gemeinde Frankfurt mit, dass er nach Litzmannstadt deportiert wurde und dort verschollen ist, so dass man mit seinem Tode rechnen muss. Über Tante Ilse und die Kinder hörten wir, sie seien nach Polen verschickt und dort höchst wahrscheinlich umgekommen. Ganz am Ende gab es nur noch Briefe ohne Menschen.“

 

Text

Auch in Göttingen hatte es zunächst heftige Kontroversen um die Stolpersteine gegeben. Der Name Gottes werde mit Füßen getreten, hatten Kritiker argumentiert, weil manche hebräischen Namen das Element L für Gott enthalten. Die liberale jüdische Gemeinde, der Göttinger Geschichtsverein und die Stadt Göttingen verständigten sich mit den kritischen Stimmen auf einen Kompromiss, wie der Geschichtsvereinsvorsitzende Peter Aufgebauer berichtet.

 

O-Ton 3, Peter Aufgebauer, 27 Sekunden

Dass Stolpersteine ohne weiteres verlegt werden können, wenn Nachkommen oder Angehörige ausdrücklich vorher zustimmen: So dass wir immer versuchen, auf diese Weise Verbindungen zu Überlebenden und Nachkommen zu gewinnen und die dann für das Projekt zu gewinnen. Das Konzept von Gunter Demnig ist, auf diese Weise auch ganze Familien zusammen zu führen, immer eine Gruppe von Namensträgern, die in einem Haus gelebt haben und auf diese Weise auch sozusagen die Familie wieder nach Göttingen zu holen.“

 

Text

Joab Eichenberg-Eilon ist bereits zum dritten Mal in Göttingen auf den Spuren seiner Urgroßmutter Meta und ihrer Familie unterwegs. Er betrachtet die Stolpersteine als gute Erinnerungen, damit seine Vorfahren auch von den Menschen in Göttingen nicht vergessen werden. Diesmal kommt es für ihn zu einer ganz besonderen Begegnung, wenn er in der Bühlstraße erstmals das frühere Wohnzimmer seiner Urgroßmutter betrachtet und mit den Bewohnern über das Gebäude und seine Geschichte ins Gespräch kommt.

 

O-Ton 4, Joab Eichenberg-Eilon, 23 Sekunden

Ich finde es sehr gut, dass gute Leute weiter in diesem Haus leben. Es ist berührend und es ist gut zu wissen, dass meine Oma und ihre Schwester und Mutter hier gelebt haben. Es gibt die Briefe. Wir haben tausende von Fotos. Wir können beinahe wieder ins Leben bringen die Leute, die umgekommen sind. Sie sind ein Teil von wer wir sind und das geht nicht weg.“

 

Text

Im US-Bundesstaat Atlanta hatte sein Vater den deutschen Namen vor langen Jahren abgelegt. Joab Eichenberg-Eilon hat ihn wieder angekommen, als Teil seiner Familiengeschichte, an die jetzt auch acht Stolpersteine in Göttingen erinnern.